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Gressel zum US-Ukraine-Paket Ein Trump-Wutanfall auf Putin und die Ukraine kann gewinnen

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Ukrainische Truppen feuern mit Artillerie im Raum Donezk gegen die russischen Angreifer.

Ukrainische Truppen feuern mit Artillerie im Raum Donezk gegen die russischen Angreifer.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Ein großes Militärpaket zu verabschieden, ist das eine - doch die Umsetzung, kostet zumeist viel Zeit. Warum es bei der US-Hilfe so schnell gehen wird und die Ukraine in Trumps Unberechenbarkeit auch eine Chance sieht, erklärt Sicherheitsexperte Gressel ntv.de.

ntv.de: Nun muss nur noch Präsident Joe Biden unterschreiben, dann kann die Umsetzung des US-Hilfspakets starten. Oft dauert es in der Rüstungsbranche sehr lange, bis eine Lieferung konkret wird, in diesem Fall sollen aber die Waffen zum Teil schon in Europa, auch in Deutschland sein. Stimmt das, Herr Gressel?

Gustav Gressel: Das Weiße Haus hat den Ukrainern trotz der Querelen im Kongress seit November gesagt: Das dauert nicht mehr lang, in zwei Wochen ist das durch und dann liefern wir. Deshalb hat die US-Armee diese Lieferungen natürlich entsprechend vorbereitet, auch wenn das politische Go dann über Monate nicht kam. Das Militär hat also mitgedacht, dadurch sind tatsächlich Teile dieser Lieferung bereits in Deutschland und Polen stationiert. Auf los geht's los.

Haben Sie noch mehr Details? Was wird als Erstes an der Front ankommen?

Informationen darüber, was genau wo liegt und in welchen Mengen, sind klassifiziert, die habe ich nicht. Aber vor allen Dingen sind es zwei Posten, die zeitkritisch sind: Artilleriemunition und Patriot Interceptors, also die Raketen, die mit dem Fliegerabwehrsystem verschossen werden. Diese Munition kriegt die Ukraine in erster Linie aus den USA und die fehlte in den letzten Wochen. Darauf gingen die Erfolge der russischen Angriffe zurück. Sie lagerte aber bereits hier, weil die US-Streitkräfte in Europa und auch die Bundeswehr das Patriot-System nutzen. In Deutschland ist also die logistische Infrastruktur vorhanden, um die Munition zu lagern und zu warten. Sie wird in den kommenden Tagen und Wochen verladen und per LKW und Eisenbahn in die Ukraine gehen.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.

(Foto: seesaw-foto.com)

Auch in Deutschland wird vom Rüstungskonzern MBDA eine Patriot-Produktionslinie für Munition aufgebaut. Ab wann kann das helfen?

Man rechnet damit, dass die ersten Raketen 2030 ausgeliefert werden können.

2030 - das ist sehr ernüchternd.

Ich sage zwar immer, es wird ein langer Krieg für die Ukraine, aber 2030 könnte sogar für diesen Krieg zu spät sein. Zunächst muss die Fabrik gebaut werden, dann der Herstellungsprozess anlaufen und dann haben Fliegerabwehrraketen einen Produktionszyklus von etwa zwei Jahren pro Stück. Artilleriegranaten - zum Vergleich - haben einen Zyklus von nur sechs bis neun Monaten. Sie sind sozusagen die dümmste Klasse an Munition und entsprechend schneller herzustellen.

In den letzten Monaten mussten die ukrainischen Kommandeure an der Front streng haushalten mit ihrer Munition. Können sie in Erwartung des US-Pakets schon jetzt an die Reserven gehen?

Ja, weil sie nun die notwendige Sicherheit haben, dass der Nachschub kommt. Bisher wussten die Ukrainer ja nie, wie lange sie mit den vorhandenen Beständen haushalten müssen - auch, weil sich die europäischen Lieferungen ebenso verzögert haben. Die EU hatte bis März, also bis letzten Monat, 200.000 weitere Artilleriegranaten versprochen. Davon kam nur die Hälfte in der Ukraine an. Im April dann nochmal 50.000. Das ist deutlich zu wenig und weit hinter dem, was wir in der Lieferplanung vorgesehen hatten.

Die Munitionsinitiative der Tschechen wollte 800.000 Schuss liefern und damit im März starten. Wie steht es damit?

Wir sind jetzt bei 180.000 Schuss, beginnend ab Juni. Das hat die ukrainischen Streitkräfte enorm unsicher gemacht - die USA fielen als Unterstützer komplett aus und die Europäer hinken dem, was sie versprechen, um Monate hinterher. Damit an der Front umzugehen, ist sehr schwierig.

Die tschechische Initiative wird doch von vielen EU-Staaten unterstützt. Wie kann es sein, dass es trotzdem so schleppend vorwärtsgeht?

Die Regierungen betreiben Politik mit Verkündungen. Es wird Hilfe angekündigt, das hört sich dann gut an, aber faktisch produziert und geliefert wird meistens deutlich später. Für die Tschechien-Initiative haben viele Staaten ihr Interesse bekundet, aber wirklich Geld auf den Tisch gelegt und Lose für Munition gekauft haben nur Dänemark, die Niederlande und Tschechien selbst. 20 weitere Staaten haben zwar die Absicht bekundet mitzuhelfen, aber faktisch nur wenig oder gar nichts beigetragen. Es geht dabei entweder um Munitionslose für Produktion von Drittanbietern außerhalb der EU oder es geht darum, Konventionalstrafe zu übernehmen.

Wofür wird die gezahlt?

Der schnellste Weg zur Beschaffung ist der, Firmen, die derzeit dabei sind, für einen Exportauftrag Munition zu produzieren, aus ihrem Liefervertrag herauszukaufen. Das Rüstungsunternehmen soll also den jeweiligen Exportauftrag Exportauftrag sein lassen und die hergestellten Granaten sofort in die Ukraine liefern. Dann wird allerdings gegenüber dem Vertragspartner eine Konventionalstrafe fällig. Also muss man nicht nur den Preis für die Munition zahlen, sondern dazu die Strafe an den ursprünglichen Endkunden. Dadurch steigt natürlich der Preis pro Granate deutlich. Aber so läuft es eben, wenn ein Produkt zeitkritisch ist. Wie 2020 bei den Masken.

Diesen Preis wollte kein EU-Staat zahlen?

Nein, tatsächlich finanziert wurden nur Ankäufe von Munitionsproduzenten aus Nicht-EU-Staaten. Das Problem ist: Im Westen, und da nehme ich die USA nicht aus, wird sehr viel für die Meldung getan. Es soll alles gut ausschauen, wir wollen führend sein, kündigen vieles an, aber in der Umsetzung gibt es extrem viel schlechte Planung. Die Staaten informieren sich nicht gegenseitig, was sie vorhaben. Sie teilen sich nicht mit, was sie liefern. Die Folge: Man konkurriert bei denselben Herstellern im Ausland um dieselben Produkte und treibt sich gegenseitig die Preise in die Höhe.

Ein beachtliches Chaos, das die EU-Staaten in ihrer Ukraine-Hilfe produziert haben, obwohl Washington so lange außen vor war und die Lage an der Front dramatisch. Was lehrt das für das Jahresende, wenn eine zweite Amtszeit von Donald Trump droht?

Eine Lehre dieser ganzen Frühjahrs-Kampagne ist: Wir können die USA nicht ersetzen, sondern wir können sie höchstens ergänzen. Nach dem Ausgang der Wahlen im November wird sich entscheiden, ob der Krieg für die Ukraine verloren geht oder nicht. Keiner weiß derzeit wirklich, was Trump vorhat und was er nach einem Wahlsieg tun würde. Wenn er im richtigen Moment einen Wutanfall auf Putin hat, kann die Ukraine auch gewinnen.

Was müssen die Europäer in der Zwischenzeit tun, um die Ukrainer zumindest so gut wie möglich für jedes Szenario zu wappnen?

Patriot wird das wichtigste Fliegerabwehrmittel bleiben, das die Ukraine hat. Die EU müsste versuchen, aus Japan weitere Patriot-Systeme zu kaufen und dazu mit den amerikanischen Munitionsherstellern Verträge abschließen. Aus denen kann sich Trump schwer rausreden, denn das sind ja Aufträge für die US-Wirtschaft. Das zweite wichtige Thema sind Schützenpanzer. Da steht in Europa kaum noch etwas zur Verfügung, man sollte versuchen, den Amerikanern Bradleys abzukaufen. Bei Kampfflugzeugen müssten die Europäer sich vermutlich auf eine Unterstützung mit Eurofightern einigen. Bei anderen Typen wüsste ich nicht, wie man die notwendigen Stückzahlen zusammenbekommt. Übrigens: Ukrainische Sicherheitskreise sind überhaupt nicht auf diesem "Mit Trump geht alles unter"-Trip. Die US-Wahlen sehen viele dort eher gelassen.

Auf welchem Trip sind die denn?

Sie sehen, wie viel die Biden-Regierung in diesem Krieg schon verzögert, verhindert, verbockt, nicht geliefert hat. Darum sagen sie sich: Trump ist komplett unberechenbar. Aber mit Biden überleben wir nicht, weil der nicht energisch genug handelt, keinen Plan hat und nur auf Deeskalation bedacht ist. Trump dagegen kann mit Putin irgendwelche Deals machen, er kann aber durch Putin auch enttäuscht werden und dann komplett sauer werden. Mit Trump wäre es Lotterie – auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht hoch ist, hat man zumindest theoretisch die Chance zu gewinnen.

Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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