Wirtschaft

Arbeitsmarktexperte im Interview Ist die Viertagewoche erst der Anfang?

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Weniger arbeiten fürs gleiche Geld - klingt aus Arbeitnehmersicht gut. Auch Unternehmen können profitieren.

Weniger arbeiten fürs gleiche Geld - klingt aus Arbeitnehmersicht gut. Auch Unternehmen können profitieren.

(Foto: IMAGO/Christian Ohde)

Die Debatte um Arbeitszeit wird hitzig geführt. Für den Arbeitsmarktexperten Enzo Weber sind selbstbestimmte Modelle nicht mehr wegzudenken. Im Interview erklärt er, warum er trotzdem kein Befürworter einer Viertagewoche für alle ist, und wo die Gefahren liegen, wenn Arbeitnehmer weniger arbeiten.

ntv.de: Einige Studien legen nahe: Das Bild vom fleißigen Deutschen hat ausgedient. Stimmt es, dass immer weniger Menschen arbeiten wollen?

Enzo Weber: Nein. Im Gegenteil. Es haben noch nie so viele Menschen in Deutschland gearbeitet wie heute. Und das liegt nicht nur daran, dass mehr Menschen aus dem Ausland hierzulande beschäftigt sind. Auch die Beteiligung im Inland ist deutlich gestiegen. Über die Jahrzehnte hat sich der Anteil an Frauen im Arbeitsmarkt beispielsweise stark erhöht und auch die Erwerbstätigkeit von Älteren ist gestiegen. Im Jahr 2000 waren von den 60- bis 64-Jährigen noch 10 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt - heute sind es 50 Prozent.

Wie passt das mit dem enormen Interesse an einer Viertagewoche zusammen?

Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung.

Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung.

(Foto: Michael Bode)

Wenn wir uns nicht die Anzahl an Menschen, sondern die geleisteten Arbeitsstunden anschauen, sieht es in der Tat ein bisschen anders aus. Während auch die Arbeitszeit in den 2000er Jahren gestiegen ist, beobachten wir seit einigen Jahren bei den gewünschten Arbeitszeiten einen Rückgang. Die Zahl bricht aber auch nicht ein. Aus unseren Erhebungen lässt sich nicht ableiten, dass jeder zweite Arbeitnehmer nur noch vier Tage die Woche arbeiten will. Wir beobachten, dass die gewünschte Arbeitszeit im Schnitt um gut zwei Stunden pro Woche gesunken ist.

Warum entscheiden sich Arbeitnehmer dazu, weniger zu arbeiten?

Wenn Menschen ihre Arbeitszeit reduzieren, dann ist der Grund Nummer eins: familiäre Verpflichtungen. Wir haben bei der Kinderbetreuung zwar schon Fortschritte gemacht, es ist aber immer noch Luft nach oben. Kinderbetreuungsangebote sind ein enormer Hebel, um gerade Frauen stärker in den Job zu bringen. Zusätzlich hat der Corona-Schock die Standards verschoben. Während der Pandemie ist einigen zum Beispiel klar geworden: Sie können ihre Arbeit genauso gut zu Hause erledigen. Arbeitnehmer stehen mit der Forderung nach Homeoffice oder 35 Wochenstunden nicht auf verlorenem Posten.

"Die Arbeitszeit in Deutschland ist zu niedrig. Das ist ein Problem für den gesamten Wirtschaftsstandort", warnte zuletzt auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Wo genau liegen die Gefahren, wenn Arbeitnehmer weniger arbeiten?

Wenn in Deutschland alle Vollzeitbeschäftigten nur noch vier Tage die Woche arbeiten würden, gingen uns dadurch zwölf Prozent Arbeitskapazität verloren. Das wäre schon ziemlich happig. Klar ist: Weniger Arbeitskapazität heißt weniger Wertschöpfung und weniger Wohlstand. In der Konsequenz sinkt das Gesamteinkommen der Volkswirtschaft. Insofern liegt der Wirtschaft einiges daran, möglichst viel Fachkräftepotenzial zu sichern.

Wirtschaftsbosse und Ökonomen wie IW-Chef Hüther fordern: Die Deutschen müssen wieder mehr arbeiten. Kann mehr Arbeit wirklich die Antwort auf den Fachkräftemangel und eine alternde Gesellschaft sein?

Ich stehe weder auf der Seite von denjenigen, die rufen: Fachkräftemangel, wir müssen alle mehr arbeiten. Noch befürworte ich eine Viertagewoche für alle. Vielmehr sollten wir uns überlegen: Welches Modell ist gesellschaftlich wirklich sinnvoll? Möglichst viel materieller Wohlstand und möglichst wenig Freizeit können nicht das Ziel sein. Wir müssen abwägen: Wie viel Arbeitszeit möchte ich zu welchen Bedingungen einsetzen? Und diese Abwägung, die kann niemand für die Menschen treffen, die können sie nur selbst treffen. Wir können aber die Bedingungen verbessern.

Kann geringere Arbeitszeit denn durch eine höhere Produktivität ausgeglichen werden?

Ja. Mit Künstlicher Intelligenz können wir unsere Produktivität steigern. Das bringt Fortschritt und mehr Wohlstand. Auf der Basis von mehr erwirtschaftetem Wohlstand kann die Entscheidung getroffen werden, ob einem dieser Wohlstand ausreicht und man entsprechend weniger arbeiten möchte. Was sich aber auch durch den Einsatz von KI nicht ändern wird: Wenn ich mehr arbeite, verdiene ich mehr Geld.

Werden sich alternative Arbeitsmodelle wie die Viertagewoche durchsetzen?

Selbstbestimmte Arbeitszeitmodelle sind nicht mehr wegzudenken. Und das muss für Arbeitgeber gar kein Nachteil sein. Denn unsere Untersuchungen zeigen: Selbstbestimmung führt zu einer höheren Zufriedenheit im Job. In Zukunft wird Flexibilität für Beschäftigte noch wichtiger werden. Die Forderung nach einer persönlichen Wahlarbeitszeit, die Arbeitnehmer je nach Lebensphase anpassen können, nimmt schon jetzt zu. Immer mehr wird individuell vereinbart. Das Modell der Zukunft ist eine X-Tage-Woche. Dafür brauchen wir möglichst gute Bedingungen. Niemand soll Sorge haben, weil er seine Arbeitszeit auf 35 Stunden reduziert, auf dem beruflichen Abstellgleis zu landen. Genauso müssen aber auch Hürden beseitigt werden, die oft einer Erhöhung der Arbeitszeit im Wege stehen.

Ist eine X-Tage-Woche in jeder Branche denkbar?

Diese Entwicklung wird selbst in Branchen nicht aufzuhalten sein, in denen individuelle Arbeitszeiten bislang undenkbar sind - auch in typischen Vollzeitbranchen wie dem Handwerk oder der Industrie. Dass diese Branchen bislang oft noch von Männern dominiert sind, ist dabei keine Hürde. Im Gegenteil: In Befragungen äußern Männer immer öfter den Wunsch, mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen zu wollen. Die Standards verschieben sich. Davon kann übrigens auch die Wirtschaft enorm profitieren.

Inwiefern?

Männer ermöglichen es Frauen damit, stärker im Arbeitsmarkt zu bleiben. Die ganz großen Verluste sind nämlich erst dadurch eingetreten, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen abknickt, sobald sie Kinder bekommen. Eine stärkere, gleichberechtigte berufliche Entwicklung wäre ein enormer Gewinn für die Wirtschaft.

Gerade die Gen Z hat auf dem Arbeitsmarkt ein schlechtes Image. Stimmt es wirklich, dass junge Menschen weniger leistungsbereit sind?

Die Generation Z hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Sie ist nur ein Kind ihrer Zeit. Sie hat den Corona-Schock miterlebt und tritt in einen Arbeitsmarkt ein, in dem Arbeitskräfte knapp sind. Die Generation Z ist nicht faul. Sie hat sich nur den Gegebenheiten angepasst. Und die erlauben es eben, dass selbst Berufseinsteiger schon Forderungen stellen können. Diese Rahmenbedingungen gelten aber für alle anderen auch. Wenn wir uns die gewünschte Arbeitszeit der Generation Z anschauen, unterscheidet sich die Entwicklung nicht von der älterer Arbeitnehmer. Auch das Vorurteil, die Generation Z wechselt andauernd den Arbeitgeber, konnten wir nicht belegen. Die Beschäftigungsstatistik zeigt: Junge Leute wechseln heutzutage gar nicht häufiger den Job als früher.

Für einige Experten ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 unausweichlich. Wie lange müssen wir künftig arbeiten?

Bevor wir mit irgendwelchen Zahlen um uns werfen, sollten wir ein gutes Konzept entwickeln, wie wir gerade Menschen in körperlich belastenden Berufen dazu verhelfen, bis zum Renteneintritt aktiv bleiben zu können. Da geht es um eine systematische Weiterentwicklung in verwandte Tätigkeitsbereiche. Ich nenne das "Qualifizierungswelle 50 plus". Wenn uns das gelingt und die Lebenserwartung weiter steigt, können wir auch noch mal über die 67 nachdenken.

Können die sogenannten Silver Worker wirklich die Antwort auf ein überfordertes Rentensystem sein?

Durch das demografische Minus gehen uns bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte verloren. Unsere Berechnungen zeigen: Wenn Menschen in ihren 60ern genauso häufig noch beruflich aktiv werden wie heute Menschen, die fünf Jahre jünger sind, also beispielsweise 63-Jährige noch genauso häufig im Arbeitsmarkt wären wie heute 58-Jährige, dann gewinnen wir 2,5 Millionen Arbeitskräfte. Und die Chance ist da, denn immer mehr Betriebe halten die älteren Beschäftigten, und viele äußern den Wunsch, die Kontakte zu behalten und Kompetenzen weiter einzubringen.

Wer könnte die übrigen 4,5 Millionen fehlenden Arbeitskräfte ersetzen?

Wenn wir alle Hebel in Bewegung setzen, können wir die Schrumpfung vermeiden. Bei der beruflichen Entwicklung von Frauen geht noch einiges. Genauso kommt es auf Zuwanderung an, aber vor allem auch darauf, Zugewanderte in Deutschland gut zu integrieren und ihr Potenzial besser zu nutzen. Und Arbeitskräfte sind zwar heute knapp, aber bei Vollbeschäftigung sind wir noch lange nicht – die Arbeitslosigkeit kann noch um gut eine Million sinken.

Mit Enzo Weber sprach Juliane Kipper

Quelle: ntv.de

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