Politik

Reisners Blick auf die Front "Was jetzt kommt, hilft der Ukraine nur, die Linie zu halten"

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Ukrainische Soldaten feuern mit einer Haubitze bei Kupjansk auf russische Stellungen.

Ukrainische Soldaten feuern mit einer Haubitze bei Kupjansk auf russische Stellungen.

(Foto: REUTERS)

Bei der gerade vom US-Senat verabschiedeten Hilfe für die Ukraine sei es um das Wohl und Wehe des Landes gegangen, sagt Oberst Markus Reisner in seinem wöchentlichen Blick auf die Front. "Diese Munition, aber auch die andere Unterstützung, die nun in der Ukraine eintrifft, wird dem Land helfen, die Verteidigungslinien zu halten." Mehr aber auch nicht: Selbst eine Lieferung von ATACMS würde nur helfen, bereits befreites Gelände zu halten. Das Momentum sieht Reisner bei den Russen: "Die Verluste sind hoch, aber man kann in der Armee keine Auflösungserscheinungen erkennen."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

ntv.de: Das US-Repräsentantenhaus hat seit Monaten blockierte Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar freigegeben. Ist das eine Trendwende?

Markus Reisner: Es war eine Entscheidung über das Wohl und Wehe der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten. Diese Munition, aber auch die andere Unterstützung, die nun in der Ukraine eintrifft, wird dem Land helfen, die Verteidigungslinien zu halten. Seit Monaten wissen wir, dass die Situation für die Ukraine gerade im Bereich der Artilleriemunition immer ungünstiger geworden ist. Die Frage ist nur, ob die Lieferungen schnell genug kommen, um die russische Sommeroffensive abzuwehren.

Wann könnte diese Sommeroffensive beginnen?

Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow hat gesagt, dass es vermutlich im Juni sein wird. Ich persönlich kann mir vorstellen, dass die Russen den Zeitraum am oder um den 22. Juni anvisieren, weil es für sie ein historisch relevantes Datum ist; am 22. Juni 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion und exakt drei Jahre später erfolgte die sowjetische Operation Bagration, welche den Zusammenbruch der deutschen Ostfront einleitete.

Wie lange wird es dauern, bis die Lieferungen ankommen?

Es wird Ressourcen geben, die relativ rasch da sind, zum Beispiel Artilleriegranaten oder gar ATACMS-Boden-Bodenraketen. Anderes Material, wie zum Beispiel zusätzliche Fliegerabwehr, wird länger brauchen, bis zu einigen Monaten. Die bereits im vergangenen August zugesagten F16-Kampfjets sind immer noch nicht in der Ukraine eingetroffen. Das Mindeste, was die Ukraine von der Entscheidung des US-Kongresses erhoffen kann, ist, einen gewissen Ausgleich vor allem im Bereich der Artilleriemunition gegenüber den Russen herzustellen.

Und im besten Fall?

Der Maximalfall wäre eine Wiederholung des HIMARS-Effekts aus dem Spätsommer 2022. Damals kamen die ersten Mehrfachraketenwerfer dieses Typs in der Ukraine an. Die Russen haben damals mehrere Wochen gebraucht, um sich darauf einzustellen, dass die Ukrainer auf einmal eine Wirkung auf 70 Kilometer Entfernung erzielen können. Sie mussten Befehlsstände und Munitionslager von der Front weg ins Hinterland verlegen. Ein solcher Effekt könnte sich wiederholen, wenn die Ukraine eine signifikante Menge an ATACMS-Raketen bekäme - Boden-Boden-Kurzstreckenraketen, die von der Ukraine bereits zweimal eingesetzt wurden, jeweils mit entsprechendem Erfolg. Allerdings waren die Effekte limitiert, weil die Ukraine nicht ausreichend ATACMS zur Verfügung hatte, um massiven Druck auf die Russen auszuüben. Würden sie es jetzt erneut schaffen, die Russen in ihrem Angriffsmoment zum Innezuhalten zu zwingen, um sich auf die neue Situation einzustellen, dann würde das der Ukraine die wichtige Luft verschaffen, die sie braucht, um sich auf die Sommeroffensive der Russen vorzubereiten.

Von einer ukrainischen Offensive ist da noch keine Rede.

Auch die ATACMS würden nur dazu dienen, das befreite Gelände zu halten. Um in die Offensive zu gehen, bräuchte die Ukraine noch sehr viel mehr Unterstützung, die in den 60 Milliarden Dollar nicht enthalten sind. Dazu bräuchte die Ukraine neue Brigaden der Offensive, wie sie vor der gescheiterten Sommeroffensive von 2023 gebildet wurden. Diese, rund zehn bis fünfzehn Stück, müssten mit Ressourcen ausgestattet werden - mit Munition, Kampfpanzern, Schützenpanzern, Artilleriesystemen - und mit Soldaten. Dann könnte die Ukraine 2025 wieder in die Offensive gehen. Das geht in der aktuellen Diskussion ein bisschen unter: Was jetzt kommt, hilft der Ukraine nur, die Front zu halten. Benötigt wird aber noch viel mehr - übrigens vor allem auch Fliegerabwehrsysteme in der Tiefe des Landes. Denn die Ukraine steht hier vor einem Dilemma.

Was für ein Dilemma?

Fliegerabwehr wird sowohl an der Front als auch in den Städten dringend benötigt. Aus meiner Sicht wäre es deshalb eine sehr gute Entscheidung der USA, wenn sie auch ein, zwei oder drei weitere Patriot-Batterien liefern würden. So wie Deutschland dies getan hat. Das würde die Ukraine nachhaltig in die Lage versetzen, die Tiefe des Landes zu schützen. Und nur dann kann sie den Krieg auch weiterführen. Denn die Ukraine braucht sehr viel mehr Luftabwehr, um sich gegen die strategischen Luftangriffe der Russen wehren zu können, optimalerweise dazu noch Systeme, um auch den Angriffen der Russen mit Gleitbomben an der Front etwas entgegensetzen zu können. Da reicht eine weitere Patriot-Batterie aus Deutschland einfach nicht - wobei man sagen muss, dass Deutschland hier wirklich viel geleistet hat: Von den elf Patriot-Systemen, die Deutschland hat, werden bald drei an die Ukraine abgegeben sein.

Wie löst die Ukraine ihr Luftabwehr-Dilemma normalerweise?

Im Moment ist die Flugabwehr mittlerer und hoher Reichweite vor allem um die Städte und Industriezentren aufgestellt. Aufgrund des massiven Drucks, dem die Soldaten an der Front durch den Einsatz der russischen Gleitbomben ausgesetzt waren, sah man sich in den letzten Monaten allerdings immer wieder gezwungen, die Luftabwehr um die Städte auszudünnen und Batterien an die Front zu bringen, um dort Hinterhalte zu legen. Das hat auch gut funktioniert. Aber die Russen verfügen mittlerweile über eine sehr gute Aufklärung bis tief hinter der Front. Sie haben es geschafft, Patriot- und S-300-Systeme aufzuklären und nicht wenige Werfer und Radargeräte zu zerstören.

Auch das geht in der Berichterstattung immer teilweise unter. Wir haben den Blick häufig auf die Erfolge der Ukraine: abgeschossene Flugzeuge, Beschädigungen von Schiffen in Sewastopol, Angriffe auf die Krim, wo kürzlich ein paar russische Hubschrauber zumindest beschädigt wurden, auch eine S-400-Batterie, also ein russisches Fliegerabwehrsystem. Man darf aber nicht vergessen, dass die Russen ähnliches durchführen. Und bei den Ukrainern wiegt ein Verlust einer S-300-Batterie wesentlich schwerer als auf russischer Seite. Dazu kommen die weiteren Zerstörungen.

Durch die Luftangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur.

In ihrer zweiten strategischen Luftkampagne haben die Russen es geschafft, die Zerstörung der Infrastruktur weiter fortzusetzen. Man nimmt an, dass bis zu 70 bis 80 Prozent der kritischen Infrastruktur der Ukraine bereits zerstört sind. Einige Stromanbieter in der Ukraine sagen, dass sie 80 Prozent Ausfälle haben. Das ist verheerend.

Ist schon bis zur russischen Sommeroffensive mit stärkeren Angriffen zu rechnen, weil die Russen die Zeit nutzen wollen, bevor die Lieferungen aus den USA in der Ukraine ankommen?

Ja. Was wir jetzt sehen, ist die Kulminationsphase der zweiten russischen Winteroffensive, die dazu dient, eine gute Ausgangsposition für die Sommeroffensive herzustellen. Aus russischer Sicht wäre es optimal, wenn sie den Siwerskyj-Donetsk-Donbass-Kanal vor beziehungsweise Tschassiw Jar selbst in Besitz nehmen könnten. Dann hätten sie einen prominenten Geländepunkt, eine Erhöhung, von der sie einen guten Ausgangspunkt für ihre Sommeroffensive hätten. Eine ähnliche Situation gibt es westlich von Awdijiwka, weiter südlich bei Wuhledar und auch im Norden bei Kupjansk.

Vor einer Woche ging es in Ihrem Blick auf die Front um den iranischen Angriff auf Israel. Was hat sich in den vergangenen zwei Wochen militärisch in der Ukraine getan?

An einigen Stellen haben es die Russen geschafft, weiter vorzumarschieren, zum Teil nur wenige hundert Meter, zum Teil auch mehrere Kilometer. Bei Tschassiw Jar haben wir eine zunehmend zugespitzte Lage. Dort wirkt der Siwerskyj-Donetsk-Donbass-Kanal wie ein Panzergraben. Hier versuchen die Russen, nördlich und südlich der Stadt den Kanal zu erreichen, um ihn dann zu überschreiten und Tschassiw Jar in einer Zangenbewegung einzukesseln.

Wie können die Ukrainer die Front angesichts des Munitionsmangels halten?

Vor allem durch den Einsatz von First-Person-Drohnen. Auf die haben die Russen immer noch keine wirkliche Antwort gefunden. Aber es hat hier dennoch Fortschritte der Russen mittels des Einsatzes von Störsystemen gegeben. Ukrainische Quellen weisen darauf hin, dass die Situation ziemlich prekär war.

Kremlsprecher Peskow hat die Entscheidung des Repräsentantenhauses als "erwartbar" bezeichnet. Glauben Sie, dass die Entscheidung den Russen trotzdem Sorge bereitet?

Nach dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive 2023 hat sich das russische Stimmungsbild massiv geändert. Das kann man eindeutig in den russischen sozialen Netzwerken erkennen. Die aktuelle Stimmung ist: Egal, was jetzt noch kommt, wir werden es schaffen, denn im vergangenen Jahr haben wir die entscheidende Offensive abgewehrt. Im vergangenen Jahr wurden in russischen sozialen Netzwerken Bilder von zerstörten Leopard-Panzern gefeiert, neben Fotos von zerstörten deutschen Tiger-Panzern aus dem Zweiten Weltkrieg. Gestern wurde ein Video gepostet, das zeigt, dass der erste Leopard-2-Kampfpanzer, ein A6, offenbar gerade Richtung Moskau geschleppt wird, um ihn dort auszustellen. Auch das wird dazu dienen, die Bevölkerung anzufeuern. Die Verluste sind hoch, aber man kann in der Armee keine Auflösungserscheinungen erkennen. Die Russen haben das Momentum bei sich, sie greifen Welle für Welle an.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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