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Kehrseiten des Streaming-Booms Zerstört Spotify die Popmusik?

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Musikstreaming hat den Verkauf von physischen Tonträgern längst überholt.

Musikstreaming hat den Verkauf von physischen Tonträgern längst überholt.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Jede Art von Musik, immer und überall verfügbar: Streaming boomt. Doch das verändert auch die Popmusik selbst. Um auf Spotify und Co. erfolgreich zu sein, werden die Songs kürzer und die Alben immer länger. Zerstört Musikstreaming sein wichtigstes Produkt?

Wer heutzutage Musik hört, macht das über Streamingdienste. Zwei Drittel der Deutschen nutzen laut einer Bitkom-Studie Angebote wie Spotify oder Amazon Music. Vergangenes Jahr gab es allein in Deutschland über 200 Milliarden Streams - Tendenz steigend.

Für die Musikindustrie sind die Angebote ein Segen. Sie verdient mit Streaming und Downloads viermal so viel wie mit CDs, Schallplatten und Co. Ihr weltweiter Umsatz ist 2023 um rund 10 Prozent auf 28,6 Milliarden Dollar gewachsen, das Segment Streaming machte rund 19 Milliarden US-Dollar aus.

Marktführer bei den Streamingdiensten ist mit großem Abstand Spotify. Über 600 Millionen Menschen nutzen weltweit die Plattform mindestens einmal im Monat, gefolgt von Tencent Music aus China, Apple Music und Amazon Music.

Songs werden kürzer

Der Aufstieg des Streamings hat allerdings nicht nur das Musikgeschäft verändert, sondern auch die Musik selbst, beobachtet Nicolas Ruth. "Die Songs in den Charts werden kürzer. Wir nähern uns der Zwei-Minuten-Marke, anstatt dreieinhalb Minuten, wie es früher im Radio war", sagt der Professor für Digitale Kommunikation in der Musik- und Entertainmentindustrie an der Hochschule für Musik und Theater München im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Wir merken, dass auch die Songstrukturen und Formen verkürzt werden. Der Hook, die Melodie, die im Ohr bleiben soll, muss direkt am Anfang kommen. Vielleicht wird ein Teil weggelassen, die Strophen kürzer gestaltet. Da gibt es schon Verdichtungsmechanismen."

Diese Überlegungen fließen teilweise bereits bei der Komposition und im Studio ein, weiß der Experte. Musiker komponieren ihre Songs so, dass die Hörer möglichst lange dranbleiben. Denn Musikstreaming-Dienste bezahlen die Künstler nach der Anzahl der Abrufe. Damit ein Song als Abruf zählt, muss das Lied mindestens 30 Sekunden lang angehört werden. Und das wird immer schwieriger - denn unsere Aufmerksamkeitsspanne schrumpft: Nur acht Sekunden gibt der durchschnittliche Hörer einem Song Zeit, bis er zum nächsten skippt oder dranbleibt. Kann der Einstieg nicht überzeugen, geht Geld verloren.

Alben lang wie nie

Kürzer werden die Songs deshalb, damit sie öfter gehört werden. Die Nutzer können in derselben Zeit mehr Songs als früher hintereinander streamen. Das bedeutet ebenfalls mehr Abrufe und somit mehr Geld für die Musiker. Für Nicolas Ruth ist das nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung: "Wer sagt denn, dass ein Song dreieinhalb Minuten lang sein muss? Das steht nirgendwo festgeschrieben. Vielleicht sind wir jetzt in einer Zeit, wo wir es auch mögen, kürzere Songs zu hören."

Auch, dass Künstler und Bands Alben veröffentlichen müssen, sei nicht festgeschrieben, so der Musikprofessor. "Das ist auch nur eine Erfindung, die mit der Schallplatte und dann mit der CD gekommen ist. Sie haben technologisch den Platz bestimmt, wie viele Musikstücke auf ein Album draufpassen können."

Auf den Musikstreaming-Plattformen gibt es keine physische Grenze mehr. Musikalben sind heute so lang wie noch nie. Denn längere Alben bedeuten ebenfalls mehr Streams. Die Top-10-Alben der Billboard-Charts waren 2022 im Durchschnitt knapp 70 Minuten lang, fast 19 Minuten länger als Anfang der 1990er-Jahre, als der CD-Verkauf explodierte. Auch die Titelliste ist seitdem um rund sieben Songs gewachsen.

Dafür veröffentlichen Musiker Alben deutlich seltener als früher. In den späten 1970er-Jahren brachten sie oft jedes Jahr ein Album raus. Heute vergehen zwei, drei oder noch mehr Jahre. Spotify und Co. haben die Veröffentlichungszyklen verändert.

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Nicolas Ruth beschreibt im Podcast ein weiteres Veröffentlichungsmodell für das digitale Zeitalter. Beim "Waterfall-Modell" erscheine alle vier bis sechs Wochen eine neue Single. "Die Songs profitieren immer voneinander. Die erste Single, die gehört wurde, wird dann mit der zweiten Single wiederveröffentlicht. Wenn es gut läuft, lassen die Leute durchlaufen und hören wieder die Single." Das gehe immer so weiter, bis genügend Songs für ein Album beisammen seien.

Playlists sind die neuen Charts

Der Schlüssel zum Erfolg auf den Musikplattformen sind die Playlists. Titel, die dort landen, werden millionenfach gestreamt. So können auch unbekannte Künstler quasi über Nacht erfolgreich und bekannt werden.

Bei Spotify gibt es verschiedene Arten von Playlists. Einmal personalisierte Playlists, die auf Algorithmen basieren. Dann gibt es noch unzählige Playlists für ganz bestimmte Gelegenheiten: zum Duschen, Kochen oder Autofahren. Diese nennt Spotify "algotorial" - sie sind teils automatisiert, zum Teil sind Redakteure daran beteiligt. Jeder Nutzer kann natürlich selbst eigene Playlists erstellen, auch die Musiklabels und Vertriebe. KI-Playlists existieren bisher nur testweise in Großbritannien und Australien.

Außerdem gibt es Playlists, die komplett von Redakteuren kuratiert werden, das hat Spotify ntv.de bestätigt. "Die Redaktionen sind nach Genre oder nach Machart aufgeteilt. Sie haben die Trends im Blick, was in dem Genre angesagt ist", erklärt Ruth. Alle "zwei Wochen" könnten die Musiker über das Tool Spotify for Artists ihre veröffentlichten Songs vorstellen.

Popformel noch nicht geknackt

Wie es die Künstler auf die wichtigen Playlists schaffen, dazu geben unzählige Internetportale Tipps und Anleitungen. Auch Agenturen vermitteln Platzierungen, dabei kann auch schon mal Geld fließen, berichtet die ARD-Dokumentation "Dirty little Secrets".

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Einen Effekt auf die Klicks kann es auch haben, wenn Musiker aus verschiedenen Genres zusammenarbeiten. "Die Wahrscheinlichkeit, in eine Playlist zu kommen, ist natürlich sehr viel höher, wenn sehr viele bekannte Artists dabei sind", berichtet der Musikexperte im "Wieder was gelernt"-Podcast. Viele spielten das "Spiel der Plattformen" mit und experimentierten mit den Mechanismen von Spotify und Co. Zwar nähern sich die Songs in Form und Länge an, musikalisch passiere aber nach wie vor viel.

Gibt es also ein Rezept für einen erfolgreichen Streaming-Hit? Nein, sagt Ruth. "An der sogenannten Popformel haben sich schon viele probiert. Wenn wir das wirklich geknackt hätten, dann hätten wir wirklich den Einheitsbrei." Gerade das, was die "Regeln kreativ bricht" - das Überraschende - könne erfolgreich werden. "Das sind dann die Sachen, die man nicht im Vorfeld berechnen kann. Hoffentlich, weil das würde bedeuten, dass bald die KI uns die Hits schreibt."

Dieses Szenario scheint gar nicht so weit entfernt: Ende 2023 ist mithilfe von Künstlicher Intelligenz der neue Beatles-Song "Now And Then" entstanden. Und längst gibt es Programme, mit denen man Lieder ganz einfach komponieren kann: solche KI-Songs überschwemmen die Musikplattformen. Spotify hatte deshalb im Frühjahr 2023 Zehntausende KI-generierte Songs gelöscht.

Quelle: ntv.de

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