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Zeitgeschichte im Fußballformat Als die DDR den Klassenfeind besiegte

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Fußballgeschichte: BRD-Torwart Sepp Maier und sein Verteidiger Berti Vogts können dem Schuss von Jürgen Sparwasser nur noch geschlagen hinterherschauen.

Fußballgeschichte: BRD-Torwart Sepp Maier und sein Verteidiger Berti Vogts können dem Schuss von Jürgen Sparwasser nur noch geschlagen hinterherschauen.

(Foto: imago/Werner Schulze)

Fußball verbindet. Das gilt heute genau wie vor 50 Jahren. Bei der Fußball-WM 1974 treffen die DFB-Elf und die Nationalmannschaft der DDR erstmals und einmalig aufeinander. Das Ergebnis kennt jeder. Aber was geschah drumherum? Ronald Reng geht auf die Suche und findet jede Menge Geschichte(n).

Das Losglück hat es so gewollt: Am 22. Juni 1974 treffen im Hamburger Volksparkstadion die Fußball-Nationalmannschaften der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aufeinander. Es ist ein Vorrundenspiel, eines, das die DDR durch ein Tor von Jürgen Sparwasser überraschend mit 1:0 gewinnt. Dass das Ereignis aber Einzug in die Geschichtsbücher fand, liegt daran, dass die Partie das einzige deutsch-deutsche Aufeinandertreffen der fußballerischen Art gewesen ist. Nie vorher und auch nie wieder danach spielten die A-Teams der beiden Länder gegeneinander.

50 Jahre liegt das Spiel nun zurück. Für Ronald Reng, Deutschlands bekanntesten Fußballbuchautoren, ist dieses Jubiläum der Anlass, sich der Partie noch einmal anzunehmen. Er schaut auf die sie umgebenden gesellschaftspolitischen Begleitumstände in den beiden damaligen deutschen Staaten. Ausgehend von diesem "literarischen Experiment", wie Reng sein Buch "1974" gegenüber ntv.de beschreibt, ist ein Bestseller entstanden, der seinesgleichen sucht. Das Werk verbindet die allgemeine Leichtigkeit des Fußballs mit dem Ernst der Politik und gesellschaftlichem Wandel. Gekonnt und detailliert liefert er so Einblicke in das Leben der damaligen Zeit, "hüben wie drüben".

Drei Jahre hat Reng für "1974" recherchiert. Er hat Dutzende Menschen interviewt, sich ihre Geschichten rund um das Spiel und die Zeit der 1970er-Jahre angehört. Ihm selbst, damals vier Jahre alt, fehlen persönliche Erinnerungen. Einzelne Bilder seien ihm geblieben, sagt er: "grelle Kleidung, lange Haare und ein Fahndungsplakat der RAF beim Metzger". Es mag komisch klingen, aber genau diese fehlenden Erinnerungen Rengs an diese Zeit sind es, die das Buch befruchten. Er selbst hält sich vollkommen zurück, gibt sich vielmehr als Historiker und liefert so die vielen kleinen Erzählungen und Erlebnisse, die zusammen zu einer wunderbaren Geschichte werden. Zu einem Stück deutsch-deutscher Historie.

Gefangene des Spiels

Da wäre etwa der RAF-Terrorist Klaus Jünschke. Er sitzt in einer JVA eine mehrjährige Haftstrafe ab, während in Berlin Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Günter Netzer auf die DDR-Auswahl um Gerd Kische, Konrad Weise und Lothar Kurbjuweit treffen. Gut, Netzer wurde nur eingewechselt. Nationaltrainer Helmut Schön hatte sich für den Kölner Wolfgang Overath als Dreh- und Angelpunkt im Spiel des DFB-Teams entschieden - und gegen den Ferrarifahrer und Neu-Madrilenen Netzer, den Feingeist mit dem markanten Haarschnitt. Allein, es half nichts. Die Elf von DDR-Trainer Georg Buschner hatte hinten mit Weise und Kurbjuweit Zement angerührt, gegen den "Bomber" Müller und auch Uli Hoeneß nicht ankamen. Für Entlastung sorgte zudem immer wieder der schnelle Flügelspieler Kische aus Rostock.

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Die DFB-Elf um Superstar Beckenbauer hatte zwar Chancen. Aber wenn man im Fußball vorne nicht ins Tor trifft, kriegt man in der Regel hinten einen rein. Sparwasser gelang eben dieses Kunststück gegen den damals weltbesten Torhüter Sepp Maier. Die 1500 "handverlesenen" DDR-Fans jubelten. Der Rest ist Geschichte: In der Zwischenrunde scheidet das DDR-Team aus, obwohl Weise Johan Cruyff zur Verzweiflung treibt. Die DFB-Elf besiegt im Finale wiederum den Nachbarn aus den Niederlanden und wird zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister. Wie 1954 auch übrigens nicht in Adidas-Trikots. Aber das nur am Rande.

Ganz normale Legenden

Mehr als nur Randnotizen sind dagegen die Erlebnisse, die andere Zeitzeugen von damals dem Autoren Reng geschildert haben und die dadurch bei den Lesern von "1974" in den Köpfen bleiben. Da wäre etwa Roland Jahn aus Jena, den das DDR-Regime gegen seinen Willen außer Landes brachte und der so einer der Köpfe der friedlichen Revolution wurde. Da wäre die Theater-Schauspielerin Jutta Wachowiak aus Berlin, die nach dem Mauerfall auch im Westen reüssierte und heute Legendenstatus genießt. Den hat auch Doris Gercke inne, die als Kind aus der DDR flüchtet, in Hamburg später in die KP eintritt, die ausgesuchten Fußballfans der DDR zum Teil touristisch begleitet, nur um sich Jahre darauf endlich ihren Lebenstraum zu erfüllen und Schriftstellerin zu werden. Die äußerst erfolgreiche Krimireihe "Bella Block" geht auf ihr schreiberisches Erfolgskonto.

Kein Vorbeikommen: Lothar Kurbjuweit stoppt einen Angriff von Uli Hoeneß.

Kein Vorbeikommen: Lothar Kurbjuweit stoppt einen Angriff von Uli Hoeneß.

(Foto: AP)

In Jena sind die Fußballer Weise und Kurbjuweit ebenso wie Trainer Buschner nach wie vor Legenden. Kurbjuweit genoss als DDR-Nationalspieler so einige Vorzüge, wurde teilweise auch schwarz bezahlt, wie er Reng offen erzählt. Aber als Quasi-Fußballprofi lebte er auch in einer zugewiesenen Einzimmerwohnung und wurde von der Stasi ausspioniert. Ein Thema, mit dem sich auch Matthias Brandt auskennt. Der heutige Schauspielstar war als Kind damals absolut fußballverrückt und Fan von Netzer. Matthias' Vater aber hieß Willy. Willy Brandt. Er stolperte als Bundeskanzler über die Guillaume-Affäre, ein DDR-Spitzel im Kanzleramt. Auch das war 1974.

Und heute? 2024 jährt sich das Spiel der DFB-Elf gegen die DDR-Auswahl zum 50. Mal. Ob das Jubiläum gefeiert wird, steht in den Sternen. Vielleicht in kleiner Runde? Vielleicht auch bei einem Fußballspiel? In Deutschland findet schließlich die Europameisterschaft statt. Nach zuletzt zwei Siegen gegen Frankreich und die Niederlande hat sich die DFB-Elf erfolgreich aus einer Krise zurückgemeldet und genießt neuerdings den Status eines Geheimfavoriten. Die Vorrundengegner heißen diesmal Schottland, Ungarn und Schweiz. Ob man dabei aber wie bei der WM 1974 von Losglück sprechen kann?

Quelle: ntv.de

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