Politik

Lernen aus der Geschichte "Die wenigsten Kriege enden mit Friedensverhandlungen"

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Ein Mitglied der ukrainischen Nationalgarde feuert mit einer Haubitze auf russische Stellungen.

Ein Mitglied der ukrainischen Nationalgarde feuert mit einer Haubitze auf russische Stellungen.

(Foto: REUTERS)

Nur ein kleiner Teil der Kriege, die nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurden, endete mit klassischen Friedenskonferenzen, sagt der Historiker Jörn Leonhard, der ein Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" geschrieben hat. Im russischen Krieg gegen die Ukraine sei ein Ende nicht absehbar: "Putin sieht derzeit die Möglichkeit, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erzielen, die Russland in den letzten zwei Jahren nicht erzielen konnte. Mit dem Erfolg aber lassen sich die enormen Opfer rechtfertigen. Das spricht eher für eine Zunahme von Kriegsgewalt und derzeit jedenfalls nicht für eine glaubwürdige und beiderseitige Konzessionsbereitschaft."

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Im vergangenen März erhielt er den Gottfried-Wilhelm-Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den wichtigsten deutschen Forschungspreis.

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Im vergangenen März erhielt er den Gottfried-Wilhelm-Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den wichtigsten deutschen Forschungspreis.

(Foto: Uni Freiburg)

ntv.de: In politischen Debatten über den Krieg in der Ukraine heißt es immer wieder, dass am Ende jeder Krieg am Verhandlungstisch endet. Ist das tatsächlich so?

Jörn Leonhard: Nein, das stimmt so nicht. Es gibt Kriege, die gewissermaßen ausbrennen, ohne dass es regelrechte Verhandlungen gibt. Andere Kriege enden mit einem absoluten Minimum an Kommunikation. Ein Beispiel ist der Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988, der mit einer UN-Resolution zu Ende ging, der keiner der Kriegsparteien widersprach.

Dann sind die großen Friedensverhandlungen wie nach dem Dreißigjährigen Krieg oder dem Ersten Weltkrieg historische Sonderfälle?

In der Neuzeit, also seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, gab es zunächst große Anstrengungen zur Verrechtlichung von Kriegen, so dass auch der Anteil der Kriege zunächst anstieg, die mit formalen Friedenskonferenzen und Friedensverträge endeten - nach dem Ersten Weltkrieg umfasste das mehr als 80 Prozent aller Kriege. Aber danach begann der Wert deutlich zu sinken, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs liegt er nur noch bei 15 Prozent. Im 20. Jahrhundert enden also immer weniger Kriege mit Friedenskonferenzen. Selbst der Koreakrieg zu Beginn der 1950er-Jahre und der bis in die 1970er-Jahre geführte Vietnamkrieg münden nicht in klassische Friedenskonferenzen, sondern in aufgewertete Waffenstillstandsvereinbarungen, die dann immer wieder gebrochen werden - in Korea bis in die Gegenwart.

Woran liegt es, dass immer weniger Kriege am Verhandlungstisch enden?

Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es immer mehr Konflikte, in denen Bürgerkriegskonstellationen dominieren. Der Krieg in Syrien seit 2011 etwa enthält Elemente eines Bürgerkriegs und eines Religionskriegs, dazu eine Internationalisierung durch die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren. Hier stellt sich die Frage, wer überhaupt politische Prokura für Verhandlungen besäße. Schon für die Entscheidung, wer am Verhandlungstisch sitzen könnte, existieren so viele Hürden, dass es gar nicht erst zu ernsthaften Gesprächen kommt. Zum anderen fürchten viele Akteure, sich durch einen Friedensvertrag völkerrechtlich zu sehr zu binden.

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Warum binden Friedensverträge stärker als Waffenstillstände?

Waffenstillstände werden oftmals nur auf Zeit geschlossen, für eine Phase des Übergangs und ohne völkerrechtlichen Rahmen. Sie werden von den Akteuren daher häufig auch nur als taktische Pause angesehen, um die Verluste durch neue Rüstungen und Rekrutierungen zu kompensieren. Die völkerrechtliche Bindung durch ein völkerrechtlich bindendes Dokument wie einen Friedensvertrag bedeutet dagegen, dass ein Bruch von Bedingungen den eigenen Status beschädigt - gleichsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Viele Akteure versuchen das zu umgehen, um sich langfristig weitere Handlungsoptionen zu erhalten. Zum Beispiel war Indien nach dem Simla-Abkommen von 1972 verpflichtet, pakistanische Kriegsgefangene auszutauschen, die es eigentlich vor Gericht stellen wollte. Pakistan konnte argumentieren, dass Indien damit gegen das Völkerrecht verstieß. Solche Zwänge versuchen immer mehr Akteure zu vermeiden.

Der dritte Grund wird uns in der Zukunft noch häufiger beschäftigen. Das Völkerrecht basiert auf international geteilten Rechtsnormen - Basis für eine regelbasierte Außenpolitik. Wenn es diesen Konsens aufgrund ideologischer Polarisierungen so nicht mehr gibt, dann sinkt auch die Wahrscheinlichkeit für einen großen Friedensschluss.

War das früher anders?

Egal ob beim Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648, oder auf dem Wiener Kongress 1814 und 1815 nach den Napoleonischen Kriegen: In diesen Friedensschlüssen kamen die Friedensmacher noch aus einer gemeinsamen Erfahrungswelt und teilten trotz aller Gegensätze bestimmte Werte. Zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert waren es Aristokraten, die zumeist als Vertreter monarchischer Regime auftraten. Selbst auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 nach dem Ersten Weltkrieg war das noch spürbar: Jetzt waren es vor allem Vertreter von Demokratien auf der Seite der Sieger - die zentrale Figur bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg war nicht zufällig US-Präsident Woodrow Wilson. Aber schon jetzt und erst recht nach 1945 wurde es immer schwieriger, noch eine gemeinsame Werteordnung als Basis zu definieren. Heute sind die grundsätzlichen ideologischen Polarisierungen ja unübersehbar. Das alles macht den Weg zu klassischen, großen Friedenskonferenzen und daraus hervorgehenden Friedensverträgen jedenfalls immer schwieriger.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Völkerbund gegründet, zu dessen Aufgaben die Umsetzung der Friedensverträge gehörte. Das hat damals mehr schlecht als recht geklappt, oder?

Die Ordnung nach 1919 und der Völkerbund waren ein Beispiel dafür, wie man einen Frieden mit Erwartungen überfordern kann, so dass aus Enttäuschungen neue Krisen entstanden. So war der Völkerbund geplant als Institution der kollektiven Sicherheit, als Ende der Geheimdiplomatie. Funktioniert hat das nicht, weil in die Gründungsgeschichte des Völkerbundes ein Geburtsfehler eingewoben war, indem man die militärisch Unterlegenen zunächst nicht aufnahm. Deren Gesellschaften haben den Völkerbund dann immer wieder als Instrument der Siegermächte wahrgenommen. In Deutschland hat das den Völkerbund und die Idee der internationalen Demokratie nach dem Versailler Vertrag enorm diskreditiert - und übrigens auch die Idee einer regelbasierten Außenpolitik. Für Hitler war das ein zusätzlicher Grund, 1933 aus dem Völkerbund auszutreten, in den Deutschland erst 1926 aufgenommen worden war.

Gibt es heute eine internationale Struktur, die einen Frieden oder einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine vermitteln und durchsetzen könnte?

Historische Beispiele zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines stabilen Friedens größer wird, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: eine relative Asymmetrie auf dem Schlachtfeld und die Existenz eines starken Vermittlers. Im Ersten Weltkrieg spielte Woodrow Wilson diese Rolle. Beim Abkommen von Dayton 1995, mit dem der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet wurde, waren es erneut die USA, die bereit waren, die Bestimmungen des Friedensvertrags gegen Serbien im Zweifel auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

Einen solchen starken Vermittler gibt es im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht. Die USA und Europa sind ebenso wie China zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar in diesen Konflikt involviert. Brasilien und Indien wären vielleicht politische oder diplomatische Vermittler, aber sie wären nicht in der Lage, einen Frieden oder auch nur einen Waffenstillstand mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Die Vereinten Nationen könnten eine Rolle spielen, wenn es ein belastbares Fenster der Diplomatie gäbe, etwa mit einer Blauhelmmission. Aber auch das ist schwer vorstellbar, weil sich die beteiligten Mächte im Sicherheitsrat gegenseitig blockieren und es sich bei dem Konflikt in der Ukraine im Gegensatz etwa zum Nahen Osten um einen großflächigen Konflikt handelt. Ich schließe nicht aus, dass die UN langfristig eine Rolle spielen und vielleicht an der Vorbereitung einer Kontaktgruppe beteiligt sein könnten. Aber für eine große Lösung reicht ihr Einfluss sicher nicht.

Gibt es für die Konstellation des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ein historisches Beispiel? Es ist ja nicht das erste Mal, dass eine Atommacht ein kleineres Land angreift, aber das erste Mal findet ein solcher Krieg in Europa statt.

Historische Beispiele, die man gleichsam eins zu eins auf eine Situation der Gegenwart anwenden kann, gibt es so nicht. Aber es existieren bestimmte Muster, die sich wiederholen. Dazu zählt das Denken in imperialen Maßstäben und eine Art imperialer Phantomschmerz als Handlungsimpuls. Das Ende der Sowjetunion bedeutete jedenfalls nicht das Ende der Imperialität als Denkstil. Für Putin spielt dabei eine Art doppelte Geschichtspolitik eine entscheidende Rolle: einerseits die Erinnerung an das alte russische Zarenreich, auch die Verbindung von politischer Macht und Orthodoxie, um die moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen herauszustellen, und zum anderen, gerade im Krieg gegen die Ukraine, die Erinnerung an die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, der Kampf gegen den Faschismus, den Nazismus. Es gibt keine Rede, in der Putin nicht an den "Großen Vaterländischen Krieg" erinnert und damit an die Opferbereitschaft der Russinnen und Russen appelliert.

Aus ukrainischer Sicht ist ein historisches Leitmotiv der Kampf eines souveränen Staates um seine Unabhängigkeit als Teil der eigenen Nationsbildung. Auch das kennen wir aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert: Staaten, die sich aus imperialen Zusammenhängen lösen - denken Sie nur an die Phase von 1917 bis 1923, die Auflösung des Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs. Zugleich handelt es sich auch um einen Krieg des 21. Jahrhunderts, einen Großkonflikt mit Drohnen, der über den Stellungskrieg hinausweist, der eher an den Ersten Weltkrieg erinnert. Die meisten großen Kriege sind Hybride mit Elementen, die historische Erinnerungen wecken, aber auch mit sehr modernen Kennzeichen. So ist es auch in diesem Krieg.

Eine Ihrer Thesen lautet: Wer die Besiegten demütigt, macht den Frieden zum Waffenstillstand. Als Beispiel verweisen Sie unter anderem auf das Ende des Ersten Weltkriegs. Müsste der Westen darauf bedacht sein, ein unterlegenes Russland nicht zu demütigen?

Das ist ganz wichtig, auch wenn es im Augenblick schwer vorstellbar ist, weil wir die russischen Kriegsverbrechen vor Augen haben. Historisch hat sich die Vorstellung vom Frieden gewandelt. Die ältere Auffassung, dass Frieden die Abwesenheit militärischer Gewalt bedeutet, ist im 20. Jahrhundert einer hohen Erwartung gewichen: Frieden als Umsetzung von Gerechtigkeitsnormen, die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die Aufarbeitung, die Anerkennung der Opfer, die langfristige Gestaltung des Friedens durch politische und soziale Strukturen im Inneren der Gesellschaften. Das war bis zum Ersten Weltkrieg noch anders, und seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges enthielten Friedensverträge noch die Formel vom "wohltätigen Vergessen". Das ist uns heute fremd geworden, aber man muss sich im Klaren sein, dass die Umsetzung solcher Gerechtigkeitsforderungen enorme Hürden beinhaltet.

Nach den Jugoslawienkriegen führte die Verfolgung der Kriegsverbrecher in Serbien zu einem Solidarisierungseffekt, der den serbischen Nationalismus bis heute prägt. Man muss vor diesem Hintergrund eine Balance finden zwischen den Forderungen nach Gerechtigkeit und dem Gebot der Nicht-Demütigung einer Gesellschaft, um die Entstehung neuer Revisionismen zu verhindern. Einer der wesentlichen Faktoren, der die politische Kultur der Weimarer Republik belastete, war das Gefühl der kollektiven Demütigung nach dem Ersten Weltkrieg. Das war ein ganz entscheidender Faktor für Hitler, der das Trauma von Versailles bis zum Schluss für seine Propaganda ausnutzte.

Wie kann eine Balance zwischen Gerechtigkeit und dem Verzicht auf Demütigung aussehen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Siegermächte in Deutschland und Japan zwar Kriegsverbrecherprozesse durchgeführt. Aber sie unterschieden zwischen den persönlich Schuldigen und der Bevölkerung. Der Erfolg Japans und der Bundesrepublik nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatte auch damit zu tun, dass die westlichen Alliierten diesen Gesellschaften eine Perspektive vermittelten: wirtschaftlich im Fall der Bundesrepublik mit dem Marshallplan, politisch mit der Unterstützung der Demokratisierung. Ohne diese Perspektive wäre der Aufbau der europäischen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viel schwieriger gewesen.

Die Rückkehr Deutschlands in den Kreis der zivilisierten Welt war auch möglich, weil es mit der bedingungslosen Kapitulation eben doch eine Art Demütigung gab, und dann eine Aufarbeitung der deutschen Verbrechen.

Das ist der schmale Grat, von dem ich eben sprach. Ja, es brauchte nach dem Zweiten Weltkrieg für die Deutschen die Erfahrung der bedingungslosen Kapitulation, um diese Niederlage anzunehmen - 1918 hatten viele Deutsche die Niederlage letztlich nicht anerkannt. Es brauchte aber auch die Perspektive, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Denken Sie an die Flüchtlingslager im südlichen Libanon - dort wachsen junge Leute ohne Perspektive auf, die verführbar sind durch Gewalt. Frieden als Prozess bedeutet, über lange Zeit viel Mühe zu investieren, ohne zu wissen, ob es am Ende funktioniert. Im Fall der Bundesrepublik, Westeuropas und Japans nach 1945 hat es funktioniert - nicht perfekt, aber doch so, dass sich stabile demokratische Institutionen und freie Gesellschaften entwickeln konnten. Aber wir reden von einem Prozess von Jahrzehnten.

Was für eine Art von Frieden erwarten Sie für den Fall, dass Russland den Krieg gewinnt?

Das wäre die schlechteste aller Optionen. Denn die Art und Weise, wie ein Krieg zu Ende geht, sendet immer ein Signal. Aus historischer Perspektive wissen wir, dass sich Aggressoren, zumal solche mit imperialen Zielen, nach einem Erfolg selten zufriedenzugeben. Auch einen relativen Gewinn betrachten sie als Bestätigung dafür, die Aggression bei nächster Gelegenheit fortzusetzen. Mein Schreckensszenario wäre ein fauler Friede nach einem russischen Erfolg, mit territorialen Gewinnen für Russland und fragilen Sicherheitsversprechen für die Ukraine. Die Wahrscheinlichkeit neuer Krisen an anderen Stellen des von Russland beanspruchten Raumes wäre hoch. Das muss nicht sofort im Baltikum sein, das könnte auch in Transnistrien oder im Kaukasus passieren. Aber dass einseitige Konzessionen der Ukraine die Situation langfristig stabilisieren könnten, halte ich für eine naive Vorstellung.

Sie schreiben in Ihrem Buch, eine Konfliktsituation müsse "reif" für eine diplomatische Initiative sein, Vermittler müssten über Glaubwürdigkeit und über ein robustes Mandat verfügen, also mit militärischen Mitteln die Umsetzung von Abmachungen durchsetzen können. Ist davon irgendetwas beim russischen Krieg gegen die Ukraine gegeben?

Derzeit ist das nicht absehbar. Ein starker internationaler Vermittler fehlt, und auf dem Schlachtfeld spielt im Augenblick der Zeitfaktor Russland in die Hände. Durch den Präsidentschaftswahlkampf sind die USA blockiert, und in Europa nehmen die politischen Auseinandersetzungen um Fortsetzung und Ausmaß der Ukraine-Hilfe zu. Es gibt sehr viele historische Beispiele, in denen es in ähnlichen Situationen zu einer verstärkten Mobilisierung kriegerischer Gewalt kam. Auch 1917 kam es zu vielen Friedensinitiativen, die aber zum größten Teil taktischer Natur waren, weil letztlich alle Kriegsparteien noch an einen Erfolg auf dem Schlachtfeld glaubten. Mit den Friedensinitiativen ging es auch darum, die Erschöpfung des Gegners zu testen. Wenn eine Kriegspartei aber erkennt, dass der Gegner Konzessionen aus Erschöpfung zugesteht, dann wird er alles daransetzen, die eigenen Kräfte noch einmal zu mobilisieren, um vielleicht doch noch einen Siegfrieden zu erreichen - so wie das Deutsche Reich in den letzten blutigen Offensiven ab Frühjahr 1918. Es kommt ein weiterer Faktor hinzu: Kriege, die lange dauern, kosten enorme Opfer. Es wird gegenüber der eigenen Gesellschaft schwierig, diese Opfer zu rechtfertigen, wenn eine Regierung dem Gegner Konzessionen macht, weil sie sich so dem Vorwurf aussetzt, die Opfer zu verraten.

Putin sieht derzeit die Möglichkeit, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erzielen, die Russland in den letzten zwei Jahren nicht erzielen konnte. Mit dem Erfolg aber lassen sich die enormen Opfer rechtfertigen. Das spricht eher für eine Zunahme von Kriegsgewalt und derzeit jedenfalls nicht für eine glaubwürdige und beiderseitige Konzessionsbereitschaft.

Aus der Ukraine gibt es Berichte über eine gewisse Kriegsmüdigkeit. Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass die Ukrainer auf keinen Fall aufgeben wollen. Gibt es für diese widersprüchliche Situation ein historisches Vorbild?

Für Kriege, die so lange dauern und so hohe Opfer fordern, ist diese Entwicklung eher der historische Normalfall, zumal dann, wenn es keine klare Trennung zwischen militärischer und ziviler Sphäre gibt, wenn es also permanent zu Angriffen auf zivile Ziele und Infrastrukturen kommt. In Frankreich entwickelte sich 1917 eine große Krise an der Heimatfront. Zehntausende Arbeiterinnen demonstrierten gegen den Krieg, und Zehntausende Soldaten meuterten an der Fronst. Dahinter stand aber kein Pazifismus, sondern die Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Lasten. Das scheint mir derzeit auch in der Ukraine eine Rolle zu spielen. Dazu kommt: Die Ukraine braucht eine Perspektive, den Glauben daran, dass man diesen Krieg aushalten kann und dem Aggressor standhält. Auch die Ukrainer beobachten, dass die Europäer ihre Versprechen nicht gehalten haben. Auch in der Ukraine sieht man, was im US-Kongress passiert. Wenn die enormen Belastungen des Krieges auf eine Situation treffen, in der man den Glauben an eine wirksame Unterstützung verliert, dann wird die Erschöpfung zunehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Westen der Ukraine jetzt klare Signale liefert. Eine Ermüdungskrise würde nur Russland in die Hände spielen.

Mit Jörn Leonhard sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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