Politik

Wie weit stoßen die Russen vor? Reisner: "Es könnte der Moment des Dammbruchs kommen"

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Mit dem russischen Durchbruch von gestern sei "die Büchse der Pandora geöffnet", schreiben Militärblogger. Oberst Reisner erklärt, was daran so gefährlich ist und warum die Munition gerade jetzt so sehr fehlt.

ntv.de: Wie gefährlich ist der gelungene Durchbruch der russischen Truppen bei Otscheretyne?

Markus Reisner: Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass im Prinzip die ukrainische Front an einigen Stellen zunehmend nachgibt. Westlich von Awdijiwka, nördlich von Berdychi haben die Russen es geschafft, in den letzten knapp 14 Tagen sogar fast zehn Kilometer vorzustoßen und bereits möglicherweise Teile der zweiten Verteidigungslinie der Ukraine zu durchbrechen. Das Besondere an der jetzt eingenommenen Ortschaft Otscheretyne: Sie ist auf einer Höhe angesiedelt.

Diese Höhenlage ist ein besonderer Vorteil?

Die Ukraine ist in diesem Raum sehr flach, das macht kleinere Hügel mit 300 oder 400 Metern Höhenausdehnung zu entscheidenden Punkten. Auf dieser Kuppe bewegen sich die Russen jetzt, beherrschen von dort aus das umliegende Gelände und können die darunter liegenden Stellungen der Ukrainer in drei Himmelsrichtungen bekämpfen. Im Militär nennt man derartige Geländeabschnitte das "entscheidendes Gelände". Diese Orte eignen sich um von hier aus Operationen weiter voranzutreiben. Um diesem Vorstoß Einhalt zu gebieten, haben die Ukrainer unter anderem die 47. mechanisierte Brigade herangeführt.

Einmal mehr als sogenannte "Front-Feuerwehr"?

Genau, die 47. hat in den letzten Monaten eine intensive Zeit gehabt. Einerseits als Speerspitze beim Angriff der Ukraine bei der Offensive im Süden des Landes im Sommer 2023. Als dann Awdijiwka so stark unter Druck geriet, ist die Brigade in diesen Raum verlegt worden, nach Berdychi. Auf Videos in sozialen Medien sehen wir jetzt sehr heftige Kämpfe, wir sehen Schützenpanzer vom Typ M2 Bradley im Einsatz, die Truppe versucht, dem russischen Vorstoß Einhalt zu gebieten und am westlichen Ortsrand den Raum zu halten.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Wie bedrohlich ist die Situation?

Die 47. ist in den zurückliegenden Kämpfen schwer getroffen worden und inzwischen angeschlagen und abgenutzt. Die Russen haben begonnen, den Einbruch Richtung Norden und Süden auszuweiten. Wenn das nicht gestoppt wird, bekommen sie faktisch einen Bereitstellungsraum für weitere Angriffe. Sie könnten dann die zweite Verteidigungslinie durchbrechen und zu den nächsten wichtigen Geländepunkten, Ortschaften, Drehkreuzen vorstoßen. Das macht die Situation so gefährlich. Es ist fraglich, ob die Kräfte der 47. Brigade noch ausreichen, um das zu verhindern.

Wo könnten Ersatzkräfte herkommen?

Die Ukraine hat bereits fast alles an kampfkräftigen Reserven im Einsatz, weil die Russen an verschiedenen Stellen versuchen durchzubrechen. Die Ressourcen sind also nicht mehr da und es könnte der Moment des Dammbruchs kommen. Wenn es die Russen schaffen, die Verzögerungsstellungen der Ukrainer zu passieren, könnten sie in der zweiten Verteidigungslinie einen Fuß in die Tür bekommen, sie möglicherweise sogar durchschreiten und die zweite Linie damit unbrauchbar machen. Die Ukrainischen Truppen können im Moment zwar durch den Einsatz von First-Person-Drohnen auf Distanzen bis zu fünf Kilometer die angreifenden russischen Verbände bekämpfen, aber es fehlt ihnen die Artillerieausstattung, um die Russen vor allem in der Tiefe zu treffen.

Die Ukrainer haben dort gerade nur Drohnen zur Verfügung?

Es ist ein Mix aus verschiedenen Waffensystemen, vor allem auf gefechtstechnischer Ebene. Panzerabwehrwaffen für Distanzen bis zu drei Kilometern, Mörser bis Kaliber 120 Millimeter, Minenfelder oder Geländehindernisse wie Panzergräben, ein Kanal oder künstlich verstärkte Flüsse. Aber es sind vor allem die First-Person-View-Drohnen, mit denen man die angreifenden russischen Verbände versucht zu bekämpfen.

Wenn Sie sagen, die Russen befinden sich jetzt oben auf dieser Kuppe - macht sie diese Position auch leichter verwundbar?

Das ist einer der Gründe, warum die Russen jetzt mit so viel Druck versuchen, weiter vorzustoßen - weil sie als Ziel auf dieser Geländekante natürlich sehr klar ansprechbar sind. Die Ukraine versucht auch, gegen sie wirksam zu werden, bräuchte dafür aber Artilleriemunition, die sie derzeit nicht hat.

US-Präsident Joe Biden hat das Gesetz für das neue Militärpaket für die Ukraine heute per Unterschrift in Kraft gesetzt. Werden die ersten Lieferungen sich bald auswirken?

An der Front kann man es nicht erwarten, dass endlich vor allem diese Munitionsarten geliefert werden, mit denen die ukrainischen Truppen die Bereitstellungen der Russen attackieren könnten. Neben Munition für die Artillerie geht es dabei auch um die Boden-Boden-Raketen vom Typ ATACMS. Mit 300 Kilometern Reichweite machen sie es möglich, Bereitstellungsräume in der Tiefe, vor allem aber auch Gefechtsstände und Logistikpunkte anzugreifen. Die Russen versuchen, das Zeitfenster bis es so weit ist zu nutzen, um einen Durchbruch zu erzielen und vor allem viel Raum zu gewinnen. Denn wenn der besetzte Raum sich ausweitet, wenn er weiter in die Tiefe geht, dann wird das Zurückdrängen natürlich schwieriger. Die Russen werden rasch versuchen, den eroberten Raum mit Kräften zu sättigen und damit quasi die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie für die geplante Sommeroffensive im Juni möglichst gut aufgestellt sind.

Waren die Ukrainer auch besonders vulnerabel, weil sie in den laufenden Gefechten Truppen rotieren lassen?

Immer dann, wenn es zu Rotationen kommt, versucht der Gegner, das taktisch für einen Angriff zu nutzen. Aufgrund der unglaublich fordernden Zustände und der enormen Belastung ist man auf der ukrainischen Seite gezwungen, die Soldaten auszuwechseln. Man will vermeiden, dass Einheiten faktisch vernichtet werden oder nachgeben. In diesem konkreten Fall haben die Russen eine günstige Stelle erkannt und sind massiv angerückt. Und die Ressourcenproblematik spielt eine große Rolle. Über Artilleriemunition haben wir schon gesprochen.

Aber Fliegerabwehrsysteme fehlen auch. Wie wirkt sich das aus?

Die Russen setzen massiv Gleitbomben ein mit Kalibern von 500 bis zu 3000 Kilogramm. Wenn solch eine Bombe einen ukrainischen Stützpunkt trifft, zum Beispiel in der Ausdehnung von 200 mal 300 Metern, dann ist der vernichtet. Mit diesen Gleitbomben können die russischen Angreifer sich faktisch den Weg frei bomben, weil die Ukrainer keine Fliegerabwehr haben, um dagegen zu halten.

Schwer zu begreifen, dass die westlichen Unterstützer die Ukraine allein lassen in dieser Lage und ohne jede Chance, eine Bombe mit derartiger Zerstörungskraft abzuwehren. Warum haben die Ukrainer so wenig Luftverteidigungssysteme bekommen?

Hier ist es aus meiner Sicht falsch zu behaupten, durch das US-Hilfspaket komme Deutschland nun unter Druck, gerade was Fliegerabwehr betrifft: Deutschland hat elf Patriotsysteme und liefert jetzt das dritte an die Ukraine. Die USA haben der Ukraine ein Patriotsystem überlassen - von 60, die sie verfügbar hätten. Einige davon sind im Nahen und Mittleren Osten oder im Pazifik im Einsatz, aber das Missverhältnis bleibt dennoch klar bestehen und zieht sich wie ein roter Faden durch die Lieferungen der vergangenen Monate. Die Folgen dieser fehlenden Unterstützung, gerade der USA, sehen wir in diesen Tagen besonders deutlich, und sie werden zur ernsthaften Gefahr für die ukrainische Verteidigungslinie.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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